Montessori-Kontinuum

DIE 4 ENTWICKLUNGSPERIODEN – „FOUR PLANES OF DEVELOPMENT“

 

Wir verstehen unsere Arbeit im Sinne Maria Montessoris als Beitrag zu einer konti­nuierlichen Begleitung von heranwachsenden Menschen, die von der Geburt bis zur Reife, von 0 bis 24 Jahren, dauert. 

Während dieser Entwicklungszeit durchläuft ein Kind 4 Entwicklungsperioden, die jeweils eigene charakteristische Züge aufweisen und während dieser die Kinder auch verschiedene, für ihre ganzheitliche Entwicklung notwendige Bedürfnisse haben. Wir sehen die Entwicklung als von der Natur angelegt, sie folgt natürlichen Gesetzen. Sie folgt auch einem bestimmten Rhythmus, und sie folgt einem ganz bestimmten Zeit­plan. Der Zeitplan und Rhythmus zusammen bilden vier Entwicklungsperioden, von denen jede  bestimmte Sensibilitäten zeigt. Die unterschiedlichen Entwicklungspe­rioden bauen aufeinander auf und zielen auf verschiedene Arten der Unabhängigkeit hin. Mit jeder Stufe nähert sich das heranwachsende Kind mehr und mehr dem fina­len Ziel an, auf allen Ebenen, die eine Persönlichkeit ausmachen, gereift zum Wohle der Menschheit beizutragen.

In der 1. Periode (0 – 3 Jahre und 3 – 6 Jahre) ist es die körperliche oder auch funktio­nale Unabhängigkeit, d. h. das „für-sich-selbst-Sorgen“ - „Hilf mir es selbst zu tun“, schließlich kommen wir sehr abhängig auf die Welt. Die Kinder wollen sich in ihrem Körper zuhause fühlen, mit ihren Händen und Füßen das tun, was sie zu handlungs­fähigen Menschen macht (sich anziehen, einen Apfel schneiden, lesen, schreiben, …), um ihren Charakter und ihre Individualität in Würde auszubilden.

In der 2. Periode (6 – 12 Jahre) streben die Kinder nach moralischer und geistiger Unabhängigkeit, deshalb gehört der Satz umformuliert in „Hilf mir, (es) selbst zu denken.“Die Kinder entwickeln sich in dieser Phase zu Gruppendenkern, die das Universum mit ihrer Imaginationskraft und mit ihrer Fähigkeit zur abstraktem Den­ken verstehen wollen. Sie bilden ein moralisches Bewusstsein mit einer vom Erwach­senen losgelösten Vorstellung von Gerechtigkeit aus. 

Die soziale und ökonomische Unabhängigkeit suchen die Jugendlichen in der Periode (12 – 15 Jahre), im Erdkinderplan. Sie erfahren sich in der Gemeinschaft als vollwertige Mitglieder. „Wir müssen nicht mehr zu Hause leben, können selbst Geld verdienen, gemeinsam unser Leben bestreiten, als vollwertige Mitglieder der Gesell­schaft einen Beitrag für diese Gemeinschaft leisten.“ - Schritt für Schritt immer mehr.

Die/der 18 – 24-Jährige sucht in der 4. Entwicklungsperiode nach intellektueller und spiritueller (emotionaler) Unabhängigkeit, dies betrifft die Denkweise über Macht, Geld und ein leichtes (oder auch nicht) Leben (siehe dazu auch: Anhang in „Von der Kindheit zur Jugend“ und Standing; Renilde Montessori: „Das Leichte im Leben ist übel.“). Diese „Wüstenkinder“ arbeiten an ihrer Berufung, an ihrem Platz in der Gesellschaft. Sie wollen Leistung bringen, wenn sie finden, was ihnen entspricht – wir Menschen können nicht anders als lernen und arbeiten.

Mario Montessori, der das Erbe seiner Mutter weiterentwickelte, hatte aufgrund der Beobachtungen der Kinder und dem Vergleich der Ontogenese des Menschen mit den Ergebnissen der anthropologischen Studien über die Ausbildung des menschlichen Gehirns bestimmte allgemeingültige Merkmale des menschlichen Verhaltens heraus­gearbeitet. Es sind Tendenzen des menschlichen Individuums, mit denen es sich  un­abhängig von Zeit, Alter und Raum in Interaktion mit seiner Umgebung sein Poten­tial erschließt. Diese Merkmale werden Humane Tendenzen genannt. Sie stimmen mit den Grundmerkmalen überein, die seine Mutter Maria durch ihre Beobachtungen kindlicher Verhaltensweisen festgestellt hatte. 

Dazu zählen:

  • die Tendenz zu kommunizieren, sich auszutauschen
  • das Bedürfnis, sich in seiner Umgebung zu orientieren
  • das Bedürfnis, seine Umgebung zu erforschen
  • die Fähigkeit zu beobachten und von dem beobachteten Detail größere Zusammenhänge zu abstrahieren
  • das Bedürfnis, sich durch manuelles Hantieren die Umgebung zu erschließen
  • das Bedürfnis, seine Handlungen/Tätigkeiten genau auszuführen
  • das Bedürfnis, Dinge zu untersuchen
  • das Bedürfnis nach Selbstkontrolle
  • das Bedürfnis nach Selbstperfektion

Die humanen Tendenzen zeigen uns, wie sich das kindliche Potential in dem inneren Bauplan eines jeden Kindes äußert. In den einzelnen Entwicklungsperioden zeigen sich bestimmte Tendenzen stärker als andere. Sie zeigen uns täglich auf, dass das Lernen ein natürlicher Prozess in der kindlichen Entwicklung ist und unabhängig von Zeit und Raum ausgehend von der intrinsischen Motivation gesteuert wird. Dadurch wird klar, dass der Prozess des Lernens durch eine zum aktiven und selbstgesteuerten Handeln anregende Umgebung ermöglicht wird.

 

Allgemeine Grundprinzipien

Die PädagogInnen respektieren und achten die Individualität jedes Kindes, und un­terstützen es auf seinem Weg zur Persönlichkeitsentfaltung.

Um eine optimale Begleitung zu ermöglichen, muss die Pädagogin/der Pädagoge ge­schult sein im Beobachten, die Darbietungen der Entwicklungsmaterialien beherr­schen und den didaktischen Aufbau kennen.

Pädagogin/Pädagoge und Material sind beide Teil der vorbereiteten Umgebung, die den Bedürfnissen der jeweiligen Altersstufe angepasst, geordnet, überschaubar und einladend ist, damit das Kind selbst tätig werden kann.

All das ist Voraussetzung um den Kindern die freie Wahl der Arbeit zu ermöglichen, die ihrerseits nötig ist, und um differenziertes und stärkenorientiertes Lernen umzu­setzen. Durch die selbst gewählte Arbeit erschließen sich die Kinder die Welt.

Neben Kompetenzen im Bereich der Muttersprache, Fremdsprachen und Mathema­tik können sich die SchülerInnen ein breites Allgemeinwissen in Natur- und Geis­teswissenschaften erarbeiten. Dabei wird vor allem auf interdisziplinäres, assoziatives, vernetztes und forschendes Lernen Wert gelegt.

Bewusste Lernstrategien, sozialemotionale und gesellschaftliche Kompetenzen sowie Eigeninitiative entwickeln sich ebenso wie Kulturbewusstsein und Selbstausdruck-Fertigkeiten, welche sich die SchülerInnen im Laufe der 9 Jahre an der GaLeMo an­eignen.

Die vier Säulen/Prinzipien, auf denen Montessoripädagogik aufgebaut ist, und die sowohl für die Primarstufe als auch für die Sekundarstufe gelten, sind:

  • die freie Wahl der Arbeit
  • die Vorbereitete Umgebung
  • die didaktischen Materialien
  • die Rolle der Pädagogin/des Pädagogen als Lernbegleiter (guide)

Im Folgenden werden einerseits diese vier Säulen genauer vorgestellt, andererseits weitere Begriffe aus der Montessori-Pädagogik erläutert:

Das Prinzip der freien Wahl

Freie Wahl beginnt nach der Darbietung der Pädagogin/des Pädagogen. Nach der Darbietung haben die SchülerInnen die Freiheit, sich für eine weiterführende Akti­vität zu entscheiden und zwar mit wem, wie lange und wo es ihnen entspricht. Freie Wahl der Arbeit in einem festen und verlässlichen Zeitrahmen ermöglicht SchülerIn­nen ihren Arbeitsrhythmus zu entdecken, in große „kosmische“ Themenbereiche ein­zutauchen, ihre Arbeiten in einem freien Zyklus abzuschließen und zur Konzentration zu finden. Auf diese Weise kann das Kind in Freiheit beobachtet und sein Entwick­lungsstand eingeschätzt werden. Für die freie Wahl der Arbeit in der vorbereiteten Montessori-Umgebung müssen für jedes Kind täglich mindestens drei Zeitstunden zusammenhängend zur Verfügung stehen.

Arbeit

Unter der Arbeit des Kindes verstehen wir eine bewusste Aktivität, mit der es sei­nen verstehenden Geist aufbaut. Damit dies möglich ist, muss das Kind maximale Anstrengung erfahren und selbst die Herausforderung, welche nicht überfordert, an­nehmen. Arbeit ermöglicht dem Kind, in Kontakt mit sich selbst zu kommen. Wir se­hen darin im Sinne Montessoris „Heilung“, den Weg zur Normalisierung. Die Kinder entwickeln Bezug zu ihrer Arbeit, nehmen sie ernst, haben Freude daran und sind zufrieden.

„Wenn die Natur einen Plan hat, dann dürfen wir nicht gegen die Natur handeln“ – das ist das oberste Ziel in der Montessori-Arbeit, nicht immer ist diese Pädagogik eine Pädagogik des „schnellen Weges“. Wenn das Kind mit seinem inneren Lehrmeister/ mit seinem Potential in Verbindung steht und etwas Gutes für seine Entwicklung tut – dann folgen wir dem Kind. Sorgt es allerdings nicht gut für sich, dann sorgen wir für es, begleiten es auf diesem Weg dorthin. Voraussetzungen für diesen, neuerdings so genannten „Flow“ sind Interesse, Neugier, weder Unter- noch Überforderung, ein Anknüpfungspunkt und Selbstbestimmung.

Die Darbietung

Die Darbietung ist unser wichtigstes Werkzeug im Unterrichtsalltag. Eine Darbietung bringt das Kind in Kontakt mit dem Lernmaterial und ermöglicht ihm das Verständnis für ein Phänomen zu erlangen. Methodisch knüpfen wir an die vorhergegangenen Arbeiten des Kindes, an seine Alltagserfahrungen an. Wir lassen unsere eigenen Beob­achtungen einfließen und knüpfen an jene Darbietungen an, die das Kind bereits ge­sehen hat. Es gibt geplante und ungeplante Darbietungen. Wir zeigen durch geplante Darbietungen neue Themen, säen neue „Samen“, regen Ideen an. Ungeplante Dar­bietungen ergeben sich aus spontan geäußerten Fragen der Kinder oder aus aktuellen Ereignissen aus dem Alltag. Die Kinder können den Darbietungen inhaltlich, vom Tempo und von der Sprache her folgen, sodass sie selbst Ideen entwickeln können, welche forschende Aktivität nun passend wäre. Sie haben einen klaren Beginn und ein klares Ende.

Das Prinzip der Vorbereiteten Umgebung

Die Soziale Umgebung

In einer altersgemischten Gruppe (derzeit 3 Altersstufen) sorgen die Ältesten für die Aufrechterhaltung der sozialen Standards in der Gruppe, denn die jüngeren Kinder

schauen zu ihnen auf. Die älteren Kinder dienen als Vorbilder und sind stolz darauf, diese Verantwortung zu tragen. Die Kinder unterstützen einander, indem sie vonein­ander lernen. Wir begleiten die Kinder bei der Bewusstseinsbildung ihre Stärken und Schwächen betreffend. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten einander zu helfen, zu unterstützen oder etwas in die Gruppe einzubringen. Jeder Mensch ist wertvoll und so leben wir es mit den Kindern. Die Kinder wissen, wen sie in welchen Bereichen fragen können. Dadurch entstehen in den Lerngruppen keine Hierarchien. Fehlverhalten wird durch die Gruppe korrigiert.

Die physische Umgebung

besteht auf der einen Seite aus den Räumlichkeiten, auf der anderen aus Material, mit dem die Kinder darin arbeiten. Die physische Umgebung ist ein Teil der „Vorbereite­ten Umgebung“ (die Pädagogin/der Pädagoge ist der andere wichtige Teil). Entwick­lungsmaterialien ermöglichen den Kindern Erkenntnisse zu erlangen, Beobachtungen

zu machen, durch Hantieren Muster und Systeme aufzubauen, auf die sie später zu­rückgreifen können. Sie sind wie ein Schlüssel zum Erlangen des Verständnisses und inspirieren die Kinder zu weiterführenden Aktivitäten.

Für die erste und dritte Entwicklungsperiode ist die räumliche Umgebung extrem wichtig.

Montessori verwendet die Kosenamen „Möbelkinder“ und „Erdkinder“. Den Jun­gen ermöglicht die Umgebung die Schöpfung ihrer selbst, das Finden der eigenen Persönlichkeit und das Werden eines sozialen Wesens. Bei den Älteren ermöglicht sie die Schöpfung des erwachsenen Menschen. Für Kinder der 1. Entwicklungsperiode ist die Umgebung wie ein Zuhause: gemütlich, und es ist alles da, was man für den Alltag braucht. Für Kinder der 3. Entwicklungsperiode ist es das Land, mit der Mög­lichkeit, konkrete Schritte in die Wirtschaftswelt zu unternehmen und mit der Erde zu arbeiten, weshalb sie auch Erdkinder genannt werden.

Die Umgebung für Kinder der Primariastufe ist anders: Sie enthält alles, was das Universum abbildet. Wir sprechen von einer doppelt vorbereiteten Umgebung: die Schule und das Universum. Die Kinder nutzen ihre Imaginationskraft, um von dem erforschten Detail auf die Zusammenhänge im Ganzen schließen zu können. Die­se Schlüssel zu Universum und Welt müssen in der Umgebung vorhanden sein bzw. durch Darbietungen gegeben werden, damit sie alles erforschen und entdecken kön­nen. Kinder müssen im Rahmen der schulischen Bildung nach Montessori in Kontakt mit der Außenwelt treten können und dürfen. Dies geschieht auch durch sogenannte Going-Outs. Es ist essentiell, dass Kinder selbst Wege beschließen und bewältigen. Dadurch gewinnen sie die Freiheit, sich in der realen Welt zu orientieren.

Die Rolle der Pädagogin/des Pädagogen als Lernbegleiter

Die oberste Pflicht des Erwachsenen liegt darin, die menschliche Persönlichkeit des Kindes zu erkennen, zu respektieren, zu unterstützen, zu inspirieren, ihm ohne vorge­fasste Meinung gegenüberzutreten und mit seinem inneren Lehrmeister in Verbin­dung zu kommen. Jedes Kind hat eine/n innere/n LehrerIn, mit der/dem wir zusam­menarbeiten. Wir beobachten genau, fokussieren sein Potential, wissend, dass jedes Kind unbekannte Potentiale in sich trägt.

Soziale Standards und Regeln

Soziale Standards werden von den Erwachsenen festgesetzt. Wir leben so miteinander, damit wir uns als Gruppe und als Einzelne respektiert fühlen – integriert und aner­kannt. Diese Standards sind von den PädagogInnen gut begründet, denn die Kinder sind aus Einsicht folgsam.

Andere Regeln, die sich auch verändern können, über die man diskutieren kann, die man kritisch hinterfragen kann, gibt es auch. Hierbei können sich die Kinder ab 6 Jahren einbringen, denn das ist die richtige Zeit dafür (Entwicklung des moralischen Bewusstseins). Wenige einfache Regeln, wir LehrerInnen sind der Coach dafür, der jedoch auf die Einhaltung achtet. Die Pädagogin/der Pädagoge nimmt sich Zeit für Konfliktbegleitung, oft übernehmen es ältere Kinder, die so ein respektvolles Mitein­ander vorleben. Durch diese konsequente Haltung sind wir für die Kinder verlässlich und einschätzbar, was ihnen Sicherheit vermittelt. Unsere Verlässlichkeit ist die Ord­nung in der Klasse. Die Kinder sind nicht mehr in der sensiblen Phase für Ordnung im Raum. Den Rahmen halten wir, den geben wir vor und halten ihn. Innerhalb dieses Rahmens liegen die Entscheidungsmöglichkeiten der Kinder.

Jedes Kind übernimmt in der Klasse einen Dienst, normalerweise zu zweit. Die Leh­rerin/der Lehrer hat keinen Dienst. Die Pädagoginnen behalten den Überblick über die Struktur und Ordnung.  Die Kinder helfen einander selbst.

Fehler

Fehler gehören zum Lernen dazu. Wir leben eine respektvolle Haltung dem Fehler gegenüber, passend zur humanen Tendenz der Perfektionierung. Wir ermöglichen dem Kind, seine Fehler selbst zu entdecken. Der Fehler sagt dem Kind, wenn es ihn entdeckt, dass es etwas Neues gelernt hat. Der Fehler zeigt zugleich den PädagogIn­nen, wo sich das Kind noch weiterentwickeln kann. Wenn wir den Kindern vermitteln, dass uns nur „richtiges“ Arbeiten wichtig ist, dann bekommen wir Kinder, die schum­meln, die Angst vor Fehlern haben, die vielleicht gar nichts mehr machen, weil sie keine Fehler machen wollen.

Wir wollen mutige Kinder, die an ihre Grenzen gehen, die bereit sind, etwas Neues zu entdecken. Die bereit sind, etwas zu erforschen, das z. B. noch niemand vor ihnen erforscht hat. Und dass sie trotzdem wissen, wo die Grenzen sind und nicht übermutig sind. Kinder, die sich und Situationen gut einschätzen, Fehler zugeben und daraus lernen können. Die einschätzen können, wo die Gefahren liegen, die man besser ver­meidet. Wir begleiten sie in der Entwicklung ihrer individuellen Persönlichkeit. Sie sollen nicht so werden wie wir, es nicht so machen wie wir, sondern über uns entwick­lungsmäßig hinauswachsen.